Wer sich die Zahlen nüchtern anschaut, erkennt: Der demografische Wandel ist längst da, er kommt nicht erst noch. Wir haben bereits heute eine Alterung der Bevölkerung, die nicht linear, sondern beschleunigt verläuft. Und wir haben ein Gesundheitssystem, das für diese Entwicklung nicht ausgelegt ist.
von Assoz.-Prof. Dr. Peter Klimek
Komplexitätsforscher, MedUni Wien & Complexity Science Hub
Das, was da auf uns zukommt, ist kein Worst-Case-Szenario. Es ist der Baseline-Fall. Bis 2040 wird die Anzahl der über 65-Jährigen in Österreich von 1,8 auf 2,6 Millionen ansteigen. Gleichzeitig schrumpft der Anteil der Erwerbstätigen. Wir haben also mehr Pflegebedarf, mehr Morbidität, aber weniger Schultern, auf die wir das System verteilen können. Besonders dramatisch ist: Diese Entwicklung ist keine Überraschung. Sie ist mathematisch zuverlässig prognostizierbar und trotzdem reagiert die Systemsteuerung darauf bestenfalls zögerlich.
Die Gesundheitsdaten in Österreich sind gut. Was fehlt, ist ihre konsequente Nutzung für eine evidenzbasierte Planung.
Assoz.-Prof. Dr. Peter Klimek
Schon heute ist das Gesundheitssystem an vielen Stellen überlastet. Hausärztinnen* und -ärzte* fehlen mancherorts, anderswo sind Spitalsambulanzen überfüllt. Gleichzeitig steigen die Anforderungen: Der medizinische Fortschritt bringt neue, teurere Behandlungen, die
Patient*innen werden älter und multimorbider mit komplexeren Bedarfen. Die Realität ist: Das System arbeitet bereits jetzt an der Kapazitätsgrenze. Was fehlt, ist eine vorausschauende Strategie, die den demografischen Faktor als zentrales Steuerungskriterium ernst nimmt.
Wir wissen erstaunlich viel. Die Gesundheitsdaten in Österreich sind gut. Was fehlt, ist ihre konsequente Nutzung für eine evidenzbasierte Planung. Während der Corona-Pandemie wurden Zahlen täglich analysiert und auf Dashboards visualisiert. Doch Lehren daraus wurden kaum gezogen: Die demografische Transformation bleibt datenpolitisch weitgehend unbeachtet. Dabei wären datenbasierte Frühwarnsysteme, Monitoring-Tools und Szenarienrechnungen zentrale Instrumente, um aktiv zu steuern, statt nur zu reagieren.
Die Kenntnis der Pfade von Patient*innen quer über alle Bereiche im Gesundheitssystem ist dabei zentral. Je frühzeitiger man hier Brüche in der Versorgung erkennt und beseitigt, desto mehr Spätfolgen mit teuren Behandlungen erspart man sich Jahrzehnte später. Wir könnten solche Indikatoren zur Steuerung nutzen, aber wir tun es nur unzureichend. So entsteht ein gefährliches Muster: Das System erkennt die Schieflagen erst dann, wenn sie sich bereits in Wartezeiten, Personalflucht oder Qualitätsverlusten zeigen.
Die Systemanalyse zeigt vier zentrale Problembereiche:
1. Versorgungslücken: Gerade im niedergelassenen Bereich sind die vorhandenen Ressourcen oft ungleich verteilt. Hier rächt sich eine verfehlte Planung der vergangenen Jahrzehnte.
2. Fehlanreize: Statt Prävention und kontinuierliche Betreuung zu fördern, belohnt das System oft teure Einzelleistungen. Das ist weder effizient noch patient*innenorientiert.
3. Fragmentierung: Es fehlt ein gemeinsames Verständnis, was „Gesundheitssystem“ eigentlich umfasst. Prävention, Pflege, Akutversorgung: all das läuft weitgehend nebeneinander her. Die Vielzahl der Player*innen mit unterschiedlichen Interessen und Zuständigkeiten macht eine koordinierte Steuerung fast unmöglich.
4. Fachkräftemangel: Dieser wird häufig als personalpolitisches Thema diskutiert, ist aber in Wahrheit auch das Resultat struktureller Versäumnisse. Man hätte ihn kommen sehen können. Und: Man hätte ihn verhindern können.
Was braucht es also?
Datenbasierte Planung: Gesundheitspolitik darf nicht auf Sicht fahren. Wir brauchen langfristige Planung, Frühindikatoren und den politischen Willen, sie ernst zu nehmen.
Anreizsysteme neu denken: Ein System, das Prävention bestraft und Spitalsaufenthalte belohnt, kann nicht effizient sein.
Kapazitätsaufbau steuern: Wir müssen uns ehrlich eingestehen, wo Personal fehlt, wo es vielleicht sogar zu viel ist, und wo Investitionen langfristig wirken.
Gesundheit breiter denken: Es braucht ein sektorübergreifendes Verständnis von Patient*innenpfaden, um die Kontinuität in der Versorgung sicherzustellen. Pflege, Prävention, Akutmedizin: Das alles ist ein System. Nicht viele.
Politische Langfristigkeit stärken: Der demografische Wandel wirkt über Jahrzehnte. Wer nur in Legislaturperioden denkt, wird seine Dynamik immer zu spät erkennen.
Das System wird nicht von heute auf morgen kollabieren. Es wird einfach immer schlechter funktionieren, still und schleichend.
Die gute Nachricht: Wir wissen genug, um zu handeln.
Die Schlechte: Wir tun es noch nicht.
Diesen und weitere Beiträge finden Sie in unserem Demografie-Paper.
Headerbild: Vitaly Gariev – Unsplash