"Der selbstbestimmte Patient braucht Ethik"

Die vergangenen 25 Jahre haben große Veränderungen in der Medizin und den Ordensspitälern mit sich gebracht. Dr. Michael Heinisch, der Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe, zieht Bilanz und gibt einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft.

Wenn Sie auf die ersten 25 Jahre der Vinzenz Gruppe zurückblicken, welche Veränderungen im Gesundheitswesen waren besonders prägnant?

Michael Heinisch: Da ist zum einen die verstärkte Spezialisierung in der Medizin, mit der mehr Erfahrung in der Behandlung der jeweiligen Krankheit und damit ein Mehr an Patientenqualität einhergehen. Augenscheinlich war in den vergangenen Jahrzehnten auch die steigende Inanspruchnahme von Leistungen in den Krankenhäusern, wobei die Verweildauer der Patientinnen und Patienten gleichzeitig massiv zurückgegangen ist. Waren in den 1960er-Jahren Patientinnen und Patienten durchschnittlich noch 25 Tage im Krankenhaus, liegt jetzt die Aufenthaltsdauer bei rund sieben Tagen. Das hat das gesamte Gesundheitswesen radikal verändert. 

Inwiefern?

Für alle Tätigkeiten, beginnend bei der Aufnahme über die Diagnose bis zur Therapie und zur Entlassung von Patientinnen und Patienten, hatten unsere Mitarbeitenden damals einige Wochen Zeit. Jetzt geschieht all das in wenigen Tagen. Diese Beschleunigung gelang durch enormen medizinischen Fortschritt und eine radikale Umstellung der Abläufe in den Krankenhäusern. Erinnern Sie sich: Mussten Patienten mit grauem Star oder einer Meniskusverletzung früher noch tagelang das Krankenhausbett hüten, gehen sie heute bereits am Tag der Operation wieder nach Hause. Solche tagesklinischen Eingriffe sind zur Routine geworden. Beeindruckend ist auch, welche neuen Therapien uns beispielsweise bei Krebserkrankungen, akuten Herzproblemen oder auch in der Schlaganfallbehandlung zur Verfügung stehen. 

Die Gesellschaft ist in dieser Zeit deutlich gealtert. Wie hat sich das auf die Medizin ausgewirkt?

Altersmedizin wurde zu einer eigenen Disziplin: Mittlerweile haben wir in nahezu allen Krankenhäusern der Vinzenz Gruppe Abteilungen für Akutgeriatrie eröffnet. Die Expertinnen und Experten behandeln alterstypische Erkrankungen mit dem Ziel, den Patientinnen und Patienten wieder ein selbstständiges Leben zu Hause zu ermöglichen. Zusätzlich haben wir in unseren Krankenhäusern ein professionelles Entlassungsmanagement aufgebaut. Unsere Mitarbeitenden kümmern sich umsichtig darum, dass die Patienten zu Hause die Rahmenbedingungen dafür vorfinden, ihren Alltag wieder bestmöglich selbstständig bewältigen zu können. Der Altersmedizin gilt unsere ganz besondere Aufmerksamkeit, um unserer Verantwortung gegenüber der alternden Gesellschaft auch gerecht werden zu können. 

Ist die zunehmende Ambulantisierung mehr als eine Sparmaßnahme?

Natürlich. Ambulante Behandlungen entsprechen fast immer mehr den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten als tagelange Aufenthalte in den Krankenstationen. Übrigens gilt das auch für die Nachsorge. In den vergangenen Jahren haben wir viel in ambulante Rehabilitation investiert. Wir glauben, dass sich Patientinnen und Patienten nach schweren Erkrankungen oder Eingriffen auch mit ambulanter Unterstützung optimal erholen können. Viele schätzen es ungemein, wenn sie in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können und die Rehabilitation quasi begleitend untertags in unseren Zentren stattfindet. Generell glaube ich, dass sich Therapien immer mehr in den gewohnten Alltag der Menschen integrieren lassen müssen. Hier werden wir in Zukunft auch gänzlich neue technologische Möglichkeiten haben. 

Welche Meilensteine sehen Sie in der Entwicklung der Vinzenz Gruppe?

Noch vor 20 Jahren gab es auch unter den Ordenskrankenhäusern sehr viele Einzelkämpfer. Die Vinzenz Gruppe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer wirklichen Plattform entwickelt, über die die Ordensspitäler Synergien nutzen und gemeinsam statt einsam die medizinischen Entwicklungen vorantreiben können. Auch unseren Mitarbeitenden können wir durch die Vinzenz Gruppe ganz neue Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches und des Lernens bieten. Zweifelsohne war auch unsere Spezialisierungsstrategie ein Meilenstein: In Fachkliniken und Organzentren haben wir Wissen und Technologie gebündelt, um insbesondere komplexe Krankheiten mit all unserem Know-how optimal zu behandeln. Und dann sind da noch die Gesundheitsparks, die aus unserer Sicht einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben. Wenn Sie Menschen fragen, welche aus ihrer Sicht die drängendsten Probleme im österreichischen Gesundheitswesen sind, kritisieren sie die mangelnde Integration der einzelnen Gesundheitsanbieter. Daher haben wir an all unseren Krankenhausstandorten Gesundheitsparks geschaffen. Vom Krankenhaus über die Ambulanzen, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die Pflege, die Rehabilitation bis zur Apotheke arbeiten sämtliche Partner gemeinsam an einer ganzheitlichen Behandlung der Menschen. Ziel dieser Gesundheitsparks ist es, den Patientinnen und Patienten eine abgestimmte Rundumversorgung zu bieten: Prävention, akute Versorgung und Rehabilitation. Beispielsweise haben sich rund um das Ordensklinikum Linz mittlerweile mehr als 80 Partner zur abgestimmten Versorgung der Patienten in einem Netzwerk zusammengefunden.

Was passiert mit dem christlichen Erbe der Ordensspitäler?

Dies ist eine der zentralen Fragen. Wir sind davon überzeugt, dass die Menschen, die sich unseren Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen anvertrauen, neben modernster Medizin und Pflege auch liebevolle Zuwendung und einen Umgang auf Augenhöhe erfahren sollen. Die Quelle dieser Haltung ist unsere christliche Tradition. Das meinen wir auch, wenn wir über Medizin und Pflege sprechen, die tatsächlich von Herzen kommen. Wichtig ist uns auch die Wertschätzung, die unsere Mitarbeitenden im Alltag erfahren sollen. Nur wer sich selbst in seiner Arbeit wohlfühlt, kann den Patienten und Heimbewohnern all die Menschlichkeit geben, die zu ihrer Heilung und ihrem Wohl beiträgt.

Die Vinzenz Gruppe ist ein privates Unternehmen und zugleich gemeinnützig. Was bedeutet das genau? 

Wir haben im Gesundheitswesen den Ruf, besonders effizient zu sein. Das heißt, dass wir überaus sorgsam mit dem Geld umgehen, das die Steuer- und Beitragszahler uns anvertrauen. Alles, was wir durch wirtschaftliches Verhalten einsparen, kommt unmittelbar den Patientinnen und Patienten zugute. Wir zahlen weder Dividenden noch schütten wir Gewinne aus. Unser gesamtes Interesse gilt daher den Patientinnen und Patienten und unserem öffentlichen Versorgungsauftrag. Das bedeutet Gemeinnützigkeit.

Die Coronakrise hat die Gesellschaft und das Gesundheitswesen recht unvorbereitet getroffen. Was sind die wichtigsten Lehren aus dieser Krise?

Infektionskrankheiten haben uns immer begleitet und sie werden auch weiterhin ein zentrales Thema im Gesundheitswesen bleiben. Niemand weiß das besser als die Ordensspitäler, die es ja bereits seit dem Mittelalter gibt. Ganz wesentlich war für mich die Erkenntnis, dass wir sehr viel Aufholbedarf haben, wenn es darum geht, Eigenverantwortung für unsere Gesundheit zu übernehmen. Das ist aber nicht neu. Österreich liegt seit Jahren im europäischen Spitzenfeld, was etwa den Tabak- und den Alkoholkonsum betrifft. Die damit verbundenen Folgeerkrankungen stellen für unsere Gesundheitssysteme eine große Herausforderung dar. Jetzt wäre es an der Zeit für ein Umdenken, will man unser zentrales Prinzip der Solidarität in der Finanzierung des Gesundheitswesens nicht überfordern. Zum Zweiten haben wir in der Coronakrise das Potenzial von Digitalisierung und Innovation neu entdeckt. Beispielsweise haben wir in diesen Monaten die „Ambulanz online“ entwickelt, damit Patientinnen und Patienten auch versorgt werden können, ohne dass sie in das Krankenhaus kommen müssen. Dieses Patientengespräch am Bildschirm wird in weiterer Zukunft wichtig sein, nicht zuletzt deshalb, weil sich Gesundheitsvorsorge damit wiederum besser in den Alltag integrieren lässt. All das sind keine neuen Erkenntnisse, sie wurden aber wesentlich schneller umgesetzt.

Wir sprechen von einem allgemeinen Wertewandel in der Gesellschaft. Wie wird sich dieser in der Medizin auswirken?

Zum einen wird die Patientin bzw. der Patient immer selbstbestimmter. Gerade wenn es um die eigene Gesundheit geht, wollen wir doch alle informiert und gut begleitet unsere gesundheitlichen Entscheidungen treffen. Für uns bedeutet dies, dass wir den Patientinnen und Patienten verständliche Informationen über die Therapiemöglichkeiten und über die Qualität unseres Tuns zur Verfügung stellen. Und wir müssen uns als Partner auf Augenhöhe verstehen, der Vertrauen schafft und so den Menschen gut durch seine Krankheit begleitet. Aus meiner Sicht kommt hier insbesondere der Ethikarbeit eine zentrale Rolle zu. Patienten und Angehörige müssen sich darauf verlassen können, dass wir den medizinischen Fortschritt mit all seinen Möglichkeiten höchst verantwortungsvoll und ethisch einsetzen. Der selbstbestimmte Patient braucht Ethik. Zum Zweiten erleben wir eine massive Individualisierung in der Medizin. Denken Sie nur an die Onkologie. Mittlerweile stimmen wir Krebstherapien maßgeschneidert auf das genetische Profil der Patientinnen und Patienten ab – mit dem Effekt einer wesentlich höheren Wirksamkeit. All das ist erst der Anfang. Personalisierung wird ein entscheidender Treiber für künftige Innovationen sein.

Hightech-Medizin und künstliche Intelligenz sind Themen, die im Gesundheitswesen auf uns zukommen. Mit welcher Einstellung blicken Sie in die Zukunft?

Die beste Arznei für den Menschen sei der Mensch, sagt Paracelsus. Der eigentliche Zweck von Technologie und Digitalisierung ist daher, unsere Ärztinnen und Ärzte sowie unsere Pflegerinnen und Pfleger dabei zu unterstützen, das zu tun, worum es wirklich geht: zu heilen, zu begleiten und sich dem kranken Menschen liebevoll zuzuwenden. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und dadurch Vertrauen zu schaffen. Das ist die Patientenbeziehung, die ich mir auch in Zukunft wünsche. 

Vita:

Dr. Michael Heinisch ist seit 2001 Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe. Er ist außerdem Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie an der Donau- Universität Krems. Seit 2014 wirkt er als Vorstandsmitglied im Verband für gemeinnütziges Stiften mit und stellt seit 2018 seine Expertise als Mitglied des Universitätsrats der Medizinischen Universität Graz zur Verfügung.